Mit dem Verduner Altar beherbergt das Stift Klosterneuburg in Niederösterreich eines der größten erhaltenen romanischen Kunstwerke. Nicht nur die geographische Nähe zu Wien macht dieses kostbare Objekt für mich zu einem willkommenen Referatsthema. Als Studentin an der Akademie der Bildenden Künste mit Lehramtsstudium Bildnerische Erziehung und Geschichte interessiert mich der Verduner Altar in mehrfacher Hinsicht: Zum einen in seiner künstlerischen Ausarbeitung und Gestaltung, in den Phasen und Spuren seiner Umfunktionierung und Restaurierung, in seiner didaktischen Konzeption nach dem Vorbild der biblia pauperum als altbewährte Form des (Glaubens-)Unterrichts. Anhand des Verduner Altares können wir auch Teile bzw. Aspekte der europäischen Geschichte, v.a. die Geschichte Österreichs, studieren und betrachten. Ein persönlicher Zugang für mich ist außerdem mein besonderes Interesse für sakrale Kunst.
Der Verduner Altar ist wohl - in mehrfacher Hinsicht - der kostbarste Schatz des Augustiner Chorherrenstiftes Klosterneuburg. Bevor wir uns diesem Kunstwerk näher zuwenden, befassen wir uns kurz mit der Geschichte des Ortes, wo der Verduner Altar in Auftrag gegeben, gefertigt und - wie wir sehen werden - in unterschiedlicher Funktion aufgestellt wurde.
Klosterneuburg ist uraltes Siedlungsgebiet. Die ältesten ergrabenen Spuren von Besiedlung stammen aus der Jungsteinzeit. An diesem - aufgrund seiner exponierten und zugleich geschützten Lage an der Donau - strategisch wichtigen Punkt, errichteten die Römer um das Jahr 50 n. Chr. ein Kastell (castellum). Dieses sollte den wichtigen Donauübergang und damit auch die Reichsgrenze (limes) sichern. Nach dem Abzug der Römer im 4./5. Jh. blieb das Kastell verlassen und dem Verfall preisgegeben. Der Name des römischen Kastells ist bis heute unbekannt geblieben. Für die Menschen des Frühmittelalters galten die römischen Ruinen als "alte Burg".
Im 11. Jh. wurden die Steine der römischen Mauern als Baumaterial für eine neue Siedlung, die "neue Burg" verwendet. Dort gründete Markgraf Leopold III. von Österreich (1095-1136) um das Jahr 1114 ein Kollegiatsstift für weltliche Kanoniker (canonici saeculares). Dieses wurde im Jahr 1133 den Augustiner-Chorherren (canonici regulares) übergeben. Wie es im Hochmittelalter üblich war, entstand neben dem Chorherrenstift (canonia) auch ein Stift der Augustiner-Chorfrauen. Die Frauen lebten in strenger Klausur (clausura), unterstanden dem Propst (spätlat. propos[i]tus bzw. lat. praepositus) des Herrenstiftes und wurden von einem eigenen "Custos dominarum" betreut.
Markgraf Leopold III. war im Alter von zwanzig Jahren zur Regierung der Mark im Osten des römisch-deutschen Reiches (Marchio orientalis) angetreten. Er wusste seine geringen Machtmittel ebenso richtig einzuschätzen, wie seine einzigartige Stellung an der mittleren Donau. Durch seine Regierung blieb dieses Gebiet nicht nur "der Osten von Bayern" (Ostarrichi), sondern wurde zu einem sehr selbständigen Land innerhalb des römisch-deutschen Reiches. Die Heirat mit Agnes, der Tochter Kaiser Heinrichs IV., im Jahr 1106 brachte Leopold III. großes Ansehen und ein beträchtliches Vermögen. Dieses Vermögen ermöglichte auch die reiche Ausstattung und Bestiftung des Augustiner-Chorherrenstiftes Klosterneuburg, dessen Kirche im Jahr 1136 als die damals größte Kirche des Landes eingeweiht wurde. Die Bedeutung des Ortes rührt vor allem daher, dass Leopold seine Residenz von Tulln nach Klosterneuburg verlegte. Seine neue Wohn- und Wirkungsstätte ließ er nach kaiserlichem Vorbild prächtig ausbauen. Die günstige Lage an der Donau machte das Kloster und die Residenz zum "Schlüssel" des Babenbergischen Landes. "Quasi terr[a]e clausulam" nennt ein zeitgenössisches Geschichtswerk den Ort. Leopold III., der gegen Ende seines Lebens den Titel "Principatus terre", Fürst des "Territorium Austriae" genannt wurde, wurde im Jahr 1136 - vermutlich als Opfer des Erbstreites seiner älteren Söhne - auf der Jagd ermordet.
Obwohl sein Sohn Heinrich II. Jasomirgott (+1177), seit 1141 Markgraf und seit 1156 Herzog von Österreich, die Residenz flussabwärts nach Wien verlegte, behielt Klosterneuburg auch weiterhin eine Schlüsselfunktion für das Land. Viele der Chorherren hatten in Paris studiert, waren Gelehrte, Lehrer, Juristen, Ärzte und kannten das moderne Europa. In ihrer Schreibstube entstanden die ersten verwendbaren Karten des Landes und kartographische Werke von Weltrang. Die in Klosterneuburg konstruierten Globen zählen zu den frühesten der Welt. Dank der reichen Bestiftung des Klosters durch seinen Gründer war es auch möglich, nach dessen Tod bedeutende Künstler mit der Anfertigung kostbarer Ausstattung zu beauftragen. Das Glanzstück des Stiftes aus frühester Zeit, dem dieses Referat gewidmet ist, ist der sogenannte "Verduner Altar", der im Jahr 1181 fertiggestellt wurde.
Von der zentralen Bedeutung, die Klosterneuburg weiterhin für Österreich behielt, zeugt das Grabmahl des Markgrafen Leopold III., der im Jahr 1485 heiliggesprochen und dann zum Landespatron erhoben wurde. Aber auch die Pläne Kaiser Karls VI. (1711-1740), die er 1730 entwerfen ließ, vermitteln einen vielsagenden Eindruck: Nach dem Vorbild des spanischen Escorial sollten das Kloster und die Residenz in einem gigantischen Neunkuppelbau vereinigt werden. Jede Kuppel sollte eine Krone des Hauses Österreich tragen. Als der Kaiser zehn Jahre nach Baubeginn starb, stand kaum ein Viertel des Gebäudes. Der Bau wurde bald darauf eingestellt. Der österreichische Escorial blieb ein Torso. Die Bedeutung Klosterneuburgs als Grabstätte des Heiligen Leopold III. ist bis heute geblieben. Dem Stift gehören heute etwa 25 Augustiner-Chorherren an, die v.a. zahlreiche Pfarren der Erzdiözese Wien seelsorglich betreuen. Darüber hinaus betreibt das Stift die größte Weinkellerei Österreichs und ist damit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor im Land.
Der Verduner Altar besteht aus 51 Emailbildern, die in ihrer Gesamtheit die Geschichte der Menschheit aus christlicher Sicht darstellen. Die Bezeichnung "Verduner Altar" stammt aus dem 19. Jh. Eigentlich ist dieser Name unzutreffend, denn Verdun in Lothringen (Frankreich) ist zwar der Geburtsort des Künstlers, das Werk hat aber sonst keine Beziehung zu dieser Stadt. Die Widmungsinschrift des Altares, mit der wir uns noch näher befassen werden, nennt ausdrücklich den Namen "Nicolaus Verdunensis" - Nikolaus von Verdun. Über diesen Meister der Goldschmiede- und Emailkunst ist heute nicht viel bekannt. Außer am Altar von Klosterneuburg erscheint sein Name nur an einem einzigen Werk, dem 1205 vollendeten Marienschrein in der Kathedrale zu Tournai. Dort nennt er sich "Magister Nicolaus de Verdun". Ansonsten sind keinerlei Nachrichten über ihn überliefert. Als ziemlich sicher kann seine entscheidende Mitarbeit am berühmten Dreikönigsschrein in Köln, der zwischen 1181 und 1230 entstanden ist, angenommen werden. Das beweist ein Prägestempel, der sowohl in Klosterneuburg als auch auf dem Dreikönigsschrein verwendet wurde. Fest steht, dass Magister Nicolaus in Verdun geboren wurde, und zwar - nach Forschungen der Kunsthistoriker - zwischen 1130 und 1150. Wie die Widmungsinschrift angibt, hat er den Verduner Altar im Jahr 1181 fertiggestellt. Nach Schätzungen heutiger Experten dürfte die Arbeit daran etwa zehn Jahre gedauert haben. Nikolaus von Verdun war wohl - wie es der Art des mittelalterlichen Handwerks entspricht - ein wandernder Goldschmied. Er hat das Werk in Klosterneuburg begonnen und vollendet und ist danach (nach Tornai oder Köln?) weitergezogen.
Die Emailplatten bildeten ursprünglich keine Altarwand, sondern waren als Schmuck an der Kanzel oder dem Ambo der Stiftskirche angebracht. Das geht ebenfalls aus der Widmungsinschrift hervor. Wie lange sie diesen Zweck erfüllten, ist unbekannt. Nach einem großen Brand im Jahr 1330, der das Stift zu weiten Teilen zerstörte, wurden die Emailtafeln, die inzwischen möglicherweise schon zu Altarwänden umfunktioniert worden waren, nach Wien gebracht und in einen Flügelaltar umgebaut und stand von 1331 bis 1589 als Volksaltar und bis 1714 als Hochaltar in der Stiftskirche. Danach wanderte er in die Schatzkammer des Stiftes. 1833 wurde der Verduner Altar im ehemaligen Kapitelsaal des Stiftes, der heutigen Leopoldskapelle aufgestellt, wo er bis zum heutigen Tag das Grab des Hl. Leopold ziert. Im Rahmen von Führungen ist es möglich, den Altar zu besichtigen. Darüber hinaus ist die Leopoldskapelle ein Ort regelmäßiger Gottesdienste. Auch Hochzeiten werden oft vor dem Verduner Altar gefeiert.
Der große Flügelaltar in seiner heutigen Gestalt lässt auf den ersten Blick ein genau durchdachtes Konzept seiner Gestaltung vermuten. Vier breite, horizontale Bänder tragen die Widmungsinschrift. Diese ist in leoninischen Hexametern, der in der mittelalterlichen lateinischen Dichtung üblichen Versform, abgefasst. Im leoninischen Hexameter reimen häufig Versschluss und Zäsur (Ende einer Sinneinheit).
Die vier breiten Widmungsinschriftbänder gliedern den Altar in drei Zonen. Was mit diesen drei Zonen gemeint ist, geht aus dem Text der Widmungsinschrift hervor. Im folgenden Text habe ich Sternchen(*) eingefügt, welche die Sinneinheiten kennzeichnen sollen und als Orientierungshilfen beim Vergleich mit der Übersetzung gedacht sind. Der erste Teil der Widmungsinschrift lautet:
QUALITER [A]ETATUM SACRA CONSONA SINT PERARATUM
CERNIS IN HOC OPERE* MUNDI PRIMORDIA QU[A]ERE
LIMITE SUB PRIMO* SUNT UMBR[A]E LEGIS IN IMO*
INTER UTRUMQUE SITUM DAT TEMPUS GRACIA TRITUM*
QU[A]E PRIUS OBSCURA VATES CECINERE FIGURA
*ESSE DEDIT PURA NOVA FACTORIS GENITURA*
VIM PER DIVINAM VENIENS* REPARARE RUINAM*
QU[A]E PER SERPENTEM DEIECIT UTRUMQUE PARENTEM*
SI PENSAS IUSTE LEGIS MANDATA VETUST[A]E*
OSTENTATA FORIS RETINENT NIL P[A]ENE DECORIS*
UNDE PATET VERE QUIA LEGIS FORMA FUERE*
QUAM TRIBUIT MUNDO PIETAS DIVINA SECUNDO.*
ANNO MILLENIO CENTENO SEPTUAGENO
NEC NON UNDENO* GWERNHERUS CORDE SERENO*
SEXTUS PREPOSITUS* TIBI VIRGO MARIA DICAVIT
QUOD NICOLAUS OPUS VIRDUNENSIS FABRICAVIT -
Bis hierher reicht der ursprüngliche Text der Widmungsinschrift. Nach dem erwähnten Brand im Jahr 1330 und der Umgestaltung der ehemaligen Kanzelverkleidung in einen Flügelaltar, wurde der Widmungsinschrift noch ein Textabschnitt hinzugefügt. Dieser ist in der Versform des leonensischen Hexameters dem ersten Teil angeglichen. Um den Textfluss zu bewahren, wurden in der Formulierung und Datumsangabe Kürzungen vorgenommen. Die ausgelassenen Buchstaben sind im Folgenden durch [Einklammerung] gekennzeichnet:
CHRISTO MILLENIO T[RE]CENTO VIGENO [UNDE]NO*
P[RAE]POSIT[US] STEPHAN[US] DE SYRENDORF GENERAT[US]*
HOC OP[US] AURATUM TULIT HUC TABULIS RENOVATUM*
AB CRUCIS ALTARI DE STRUCTURA TABULARI*
QUE PRIUS ANNEXA FUIT AMBONIQUE REFLEXA.
Die Übersetzung des ersten Teiles lautet :
Wie die Heilsgeschehnisse der Zeitalter übereinstimmen, siehst du in diesem Werk dargestellt.* Die Anfänge der Welt suche in der ersten Zone;* Die Schattenbilder des Gesetzes sind in der unteren;* in der Zwischenzone gibt die Gnade den noch währenden Zeitabschnitt.* Was früher die Propheten in dunklem Vorbild sangen, das macht klar die neue Zeugung des Schöpfers,* die in göttlicher Kraft kam, den Fall zu heilen,* der durch die Schlange die beiden Stammeltern vertrieben hat.* Wenn du die Vorschriften des alten Gesetzes recht überdenkst,* so enthalten sie ihrer äußeren Gestalt fast nichts von der Herrlichkeit.* Daraus wird offenbar, dass sie das Vorbild des wahren Gesetzes gewesen sind,* das die göttliche Liebe der zweiten Schöpfung schenkte.* Im Jahre tausendeinhundertsiebzig und elf (1170 + 11 = 1181)* hat frohen Herzens Wernher,* der sechste Propst,* dir, Jungfrau Maria, das Werk geweiht, das Nicolaus von Verdun gefertigt hat. -
Die Übersetzung des zweiten Teiles lautet:
Im christlichen Jahr tausenddreihundertzwanzig und elf (1320 + 11 = 1331)* hat Propst Stephan aus dem Geschlecht der Syrendorf* dieses vergoldete und durch Tafeln erneuerte Werk hierher übertragen,* vom Kreuzaltar von der Bilderwand,* die früher am Ambo angebracht und um ihn herumgebogen war.
Was bereits über die Gestalt und den Aufbau des Verduner Altares gesagt worden oder angeklungen ist, soll nun zusammengefasst und vertieft werden.
Der Verduner Altar ist ein Flügelaltar, dessen Mittelstück und Seitenflügel aus insgesamt 51 Emailtafeln gestaltet sind. Die auf den Emailtafeln dargestellten biblischen Szenen sind jeweils von einem Schriftband umrahmt, welches den Titel des Bildes und einen erklärenden Vers enthält. Der Altar bietet in seiner Gesamtheit einen Überblick über die Geschichte der Menschheit aus christlicher Sicht, d.h. über den göttlichen Heilsplan, angefangen von der ersten Offenbarung Gottes (Gott besucht Abraham in Gestalt von drei Männern und verheißt dem Hochbetagten einen Nachkommen) bis zur Vollendung der Zeiten (das jüngste Gericht).
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Gesamterscheinungsbild: Flügelaltar aus 51 Emailtafeln
Die Emailtafeln sind in drei waagrechten Zonen übereinander angeordnet. Diese drei Zonen entsprechen den drei heilsgeschichtlichen Zeitaltern, die in der Widmungsinschrift genannt sind: Die obere Zone (I) bezeichnet die Zeit "ANTE LEGEM" (vor dem Gesetz), die Zeit von der Erschaffung der Welt bis zu Moses, die Zeit, in der Gott sich den Patriarchen (z.B. Abraham) offenbarte. Die untere Zone (III) trägt die Bezeichnung "SUB LEGE" (unter dem Gesetz) und umfasst demnach den Zeitraum von der Gesetzgebung am Sinai bis zum Ende des Alten Testaments. Die mittlere Zone (II) bringt die Erfüllung des Alten Bundes (Altes Testament) im Neuen Bund (Neues Testament) "SUB GRATIA" (unter der Gnade) zum Ausdruck. Dieses besteht im Kommen Jesu Christi, der von den Christen als der von Gott verheißene Messias geglaubt wird.
Zone I |
"ANTE LEGEM" |
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Zone II |
"SUB GRATIA" |
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Zone III |
"SUB LEGE" |
horizontale Gliederung in die drei heilsgeschichtlichen Zeitalter
Die 51 Emailtafeln sind ganz regelmäßig angeordnet, und zwar so, dass je drei übereinanderliegende Bilder eine vertikale Gruppe bilden. Dabei korrespondiert einer Begebenheit aus der Zeit "ANTE LEGEM" (Zone I) eine Szene "SUB LEGE" (Zone III). Den beiden Schilderungen aus dem Alten Testament wird deren Erfüllung im Neuen Bund "SUB GRATIA" (Zone II) gegenübergestellt. Das Schema "Typus - Antitypus" begegnet uns hier sehr klar: Die alttestamentlichen Ereignisse und Personen sind die Vorbilder (Typen) des gnadenhaften Geschehens (Antitypus) im Neuen Testament. Das ist der typologische Aufbau, in dem der Sinn des ganzen Werkes liegt.
G r u p p e 1 |
G r u p p e 2 |
G r u p p e 3 |
G r u p p e 4 |
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vertikale Gliederung nach dem Schema "Typus - Antitypus" in 17 Gruppen
Am Beispiel der "Gruppe 1" soll das erklärte Schema verdeutlicht werden:
Zone |
lateinische Beschriftung |
Übersetzung |
Bibelstellen |
ANNunciatio ysaac |
Die Verkündigung Isaaks Diesem verheißt das Geschenk der Nachkommenschaft der Dreifaltige und Eine |
Genesis 18,1-16 |
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Die Verkündigung des Herrn Aus dir wird jener geboren werden, durch den der gefallene Mensch erlöst wird |
Lukas 1,26-38 |
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ANNUNCIATIO SAMSON |
Die Verkündigung Samsons Den Feinden zur Not wirst du, Weib, einen Sprössling gebären |
Richter 13,2-5 |
Der Zusammenhang der drei heilsgeschichtlichen Zeitalter am Beispiel der Verkündigung (Gruppe 1)
Die dargestellte Bildgruppe soll im Folgenden noch genauer erklärt werden:
Zone |
biblische Szene (Erklärung) |
I: ante legem |
ANNunciatio ysaac Nach Genesis 18,1-16 ist die Szene dargestellt, wie Abraham bei der Eiche von Mamre von drei Männern besucht wird, in denen er Gott erkennt. Dabei verheißt Gott dem hochbetagten Abraham einen Nachkommen. Die Darstellung Gottes in Gestalt von drei Männern wurde von den Kirchenvätern als alttestamentliche Offenbarung bzw. Andeutung der Dreifaltigkeit aufgefasst. Das erklärende Schriftband auf dem Emailbild deutet die Szene genau in diesem Sinne, wie aus dem Text hervorgeht. |
II: sub gratia |
ANNUNCIATIO DOMINI Die Szene der Verkündigung des Herrn nach dem Lukasevangelium (Lukas 1,26-38) ist in der christlichen Kunst sehr häufig und sehr früh dargestellt worden, und zwar in ganz typischer Weise, wie sie uns auch auf der Emailtafel des Verduner Altares begegnet: Maria, die betend vor einem Lesepult in ein Buch versenkt war, erhebt sich erschrocken von ihrem Stuhl. Grund ihres Erschreckens ist ein Engel, der von außen zu ihr hereintritt und sie mit den Worten begrüßt, die ein Schriftband dem Betrachter zeigt: AVE MARIA. Die von der Hand des Engels ausgehenden Strahlen versinnbildlichen die göttliche Botschaft. Links über der Szene erscheint König David als Halbfigur. Aus seinem Mund ergeht der prophetische Psalmvers: AUDI F[ilia et vide, et inclina aurem tuam] (Höre, Tochter, sieh und neige dein Ohr). |
III: sub lege |
ANNUNCIATIO SAMSON Weniger bekannt ist die dargestellte Szene der Verkündigung Samsons aus dem Buch der Richter (Richter 13,2-5): Der Frau des Manoah erscheint ein Engel des Herrn, der ihr verkündet, dass sie, die Unfruchtbare, einen Sohn gebären solle. Er sollte dem Herrn geweiht sein und sein Volk von der Herrschaft der Philister befreien. |
Erklärung der Emailtafeln der Bildgruppe 1
Isaak und Samson wurden seit frühester Zeit als Vorbilder Christi aufgefasst. Schon in der Verkündigung ihrer Geburt wird diese Vorbildlichkeit deutlich, die auch in anderen Bildgruppen des Verduner Altares veranschaulicht ist. In allen drei Fällen der ersten Bildgruppe bewirkt ein übernatürliches Eingreifen Gottes die Geburt eines verheißenen Erben, der vom Mutterleib an auserwählt sein sollte. In Isaak ist die Gottessohnschaft Christi vorgebildet, in Samson seine Gnadenhafte Erwählung und Seine Sendung, die Welt zu erlösen. In der Darstellung der Szenen hat Nikolaus von Verdun die "höhere Würde" des Neuen Testaments gegenüber den Vorbildern aus der Zeit der Erwartung und Verheissung im Alten Bund behutsam und fein herausgearbeitet: Sowohl Abraham als auch die Frau des Manoah verneigen sich vor ihren Besuchern, Maria aber steht dem Engel aufrecht gegenüber.
Es wäre interessant und lohnend, in der Art des besprochenen Beispieles alle weiteren Bildgruppen zu betrachten und zu besprechen. Dies würde jedoch den Rahmen dieses Referates sprengen, nicht aber den Rahmen eines Ausfluges nach Klosterneuburg, wozu ich Sie - sofern Sie einen solchen noch nicht unternommen haben - sehr ermutigen möchte. Es lohnt sich wirklich, den Verduner Altar in Klosterneuburg zu besichtigen. Ich hoffe, ich konnte durch meine Ausführungen ein wenig Interesse wecken und zu einem Besuch des- oder zur näheren Beschäftigung mit dem Verduner Altar anregen. In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend auf empfehlenswerte Literatur zu meinem Referat hinweisen:
Angerer, J.(Hrsg.), Klösterreisen. Ausflüge zu Klöstern und Kirchen in Österreich und Südtirol, Linz 1999
Biedermann, G./Kallen,W.v.d., Romanik in Österreich, Würzburg 1990
Röhrig, F., Der Verduner Altar, Wien 71995
Stenzel, G., Von Stift zu Stift in Österreich, Wien 1977
http://www.stift-klosterneuburg.at/verduner_altar.htm
Barbara Brandl, Juni 2001